LiamDucray
  Lyrik: des Gesellen letzte Prüfung
 





Im Dämmertief zur Morgenstund'
verkündet der Meister dem Gesellen:
  Viele Jahre bist du mein Schüler schon;
  nunmehr einer Prüfung sollst du dich noch stellen.

  Zum Beweise deiner Fertigkeit
  und Empfang der höchsten Klasse,
  begegne mit Eifer der Mission,
  die ich dir heut' erlasse.

  Bursch', so komm herbei;
  ich habe ein Denkspiel für dich.
  Bursch', so hör gut hin;
  löse dies Rätsel und belehre mich ...



Der Gesell' hockt auf dem Schemel
in einem flinken Schwung
und lauscht gespannt sodann
des Meisters Erzählung ...

  In was erkennt der eine gewaltige Fertigkeit,
  der andere gar die höchste Zielsetzung,
  so mancher etwas ganz gewöhnliches,
  und das Gesuchte selbst die größte Verantwortung?

  Was ist vergänglich wie Strauch und Zweig,
  und dennoch von ewiglichem Bestand;
  was lässt einem die Gedanken nicht mehr ruhen,
  und behält auch in Abwesenheit die Oberhand?

  Was verübt für Torheit keine Strafe;
  kann dir vieles schenken, doch nichts nehmen;
  zu was schaut man auf, obdoch es in gleicher Höhe?
  Verrate es mir! – Vier Tage will ich dir geben.



In Windes Eile zieht der Knabe
hinaus in die belebten Gassen.
  Was meint er bloß, was meint er bloß?
Oft sieht man ihn ans Köpfchen fassen.

Um der Überlegung anzufeuern
dienen der Passanten groß und klein,
so manche Schrift in den Archiven,
und des Schankwirtes feinster Wein.

Hinter jedem Winkel der prallen Stadt
sucht der Gesell nach einem Hinweis;
rastet allenfalls zu einem Atemzug,
verspottet gar den strengen Greis.


Nach vier Tagen kehrt er wieder –
der Schemel steht noch immer dort.
  Mein Herr, hier bin ich nun.
Der Bub nimmt Platz und führt das Wort:

  Am Ersten dacht' ich, das Leben sei’s
  Doch straft einen dieses wohl gescheit,
  über kurz oder lang,
  für jede noch so kleine Dummheit.

  Am Zweiten kam mir die Weisheit in den Sinn.
  Doch musst ich alsbald gestehen,
  dass dieser, wenn sie abwesend,
  auch alle Kräfte entwehen.

  Am dritten Tage dacht' ich an die Minne.
  Doch obzwar jene schenken kann,
  vermag sie auch zu nehmen –
  jeder Spiegelberg zerrinnt unter ihrem Bann.


  Nun, mein werter Meister,
  heute ist des Tages Nummer vier.
  Und ich muss euch berichten:
  des Rätsels Lösung – das seid ihr!

  Nur der wahre Meister
  fordert für Fehler keine Sühne;
  trägt in seinem Titel die größte Verantwortung;
  und bleibt auch in Abwesenheit der Kühne.

  So mancher erkennt in ihm das Überragende;
  ein anderer gar das höchste Bestreben;
  seine Lehre altert nicht, gleichwohl ist er gewöhnlich,
  denn Vergänglichkeit ziert auch des Meisters Leben.

  Für keine seiner Gaben verlangt er Zoll;
  zu ihm hinauf blickt man auch vom höchsten Podest;
  und fürwahr: es ist der Meister,
  der einem die Gedanken nicht mehr ruhen lässt.



Dem edlen Herrn steht das Maul weit offen:
  Alle Achtung. Mir war, als sprächen die Geister.
  So ist auch die letzte Prüfung mit Bravur bestanden.
  Nun denn: gehabt euch wohl, junger Meister.





 
 
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© 2012 - 2020 Liam Dûcray
 
 
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