LiamDucray
  Epik: Ein Freitag im November
 

Ein Freitag im November

außen kalt, innen warm ...


Hauptbahnhof, 23.01 Uhr:
Ich warte vor dem Hauptgebäude auf den nächsten Zug, der in etwa vierzig Minuten einige Meter über mir am dortigen Bahnsteig eintreffen sollte. Drinnen im Gebäude ist es mollig warm – hier draußen ist es winterlich kühl.
Die Welt lebt, und die Welt geht schlafen. Ein verstörender Mischmasch aus Lebensfreude und Bedeutungslosigkeit wabert durch die feuchten Straßen der in sanfte Dunkelheit getauchten Innenstadt. Diese Stadt – sie erscheint schön und hässlich in einem einzigen behutsamen Wimpernschlag, dunkel und hell zugleich, glasklar und doch verzerrt, etwas selig und etwas dreckig.

Da sind die Ermüdeten, die rasch ins Bettchen wollen; da sind die Geschäftsleute mit dem Handy am Ohr, die herumstehen und schick aussehen; da sind die Stadtstreicher, die sich rumdrücken; da sind die Penner, die noch eine Runde betteln gehen; und da sind die Kinder mit dem Alkohol in der Hand, die sich nunmehr dem zügellosen Sog dieser melancholisch glühenden Nacht hingeben werden.

Noch eine gute halbe Stunde – denk ich mir – da schnorre ich mir eben noch eine Zigarette. Schon beim ersten Anlauf ist mir jemand gnädig. Wie so häufig.
Warum auch nicht. Schließlich trete ich manierlich und respektvoll an die Leute heran, und bin auch selbst in den meisten Fällen spendabel, wenngleich mir meine Verhältnisse das eher untersagen sollten. Aber Solidarität – das denk ich mir – funktioniert nur dann richtig, wenn jeder seinen Verhältnissen entsprechend ein Stückchen mitzieht. Und die jungen Leute von heute sind durchaus kulant. Sogar eine Automaten-Kippe hab ich da erwischt, echter Luxus, yay!

Danke – hab ich gesagt. Das sag ich häufig, wenn ich etwas bekomme, obgleich es im Endeffekt keinen Unterschied zu machen scheint, denn ein Danke ist nichts Materielles – und das schätzen viele Menschen hier nicht. Ich habe es mir einfach angewöhnt. Fühlt sich echt saugut an, den ganzen Pappnasen einmal danke zu sagen. Was die sich dabei denken ist mir egal. Es geht dabei nur um meine eigene Befriedigung – jawoll.

Der Himmel ist bescheiden wolkenlos, tausend Laternen zerfetzen die Finsternis, zierliche Eiskristalle legen sich auf meine Augäpfel, ich atme tief, der entseelte Nachtwind krabbelt in meine Lungen.
So luxuriös sind diese Dinger gar nicht – denk ich mir. Selbstgestopfte schmecken mir besser. Aber was soll’s, meckern wäre jetzt nur dreist. Ich genieße es, wie sich der klebrige schwarze Teer schubweise in meiner Brust einnistet, um diesen Körper langsam von innen heraus zu zersetzen. Ein barmherziger Hauch von Tod liebkost mein Herz. Ja, das ist die pure Lust am Qualmen – herrlich.

Aber darum geht es jetzt nicht mehr. Nein, jetzt ist alles anders – jetzt, da ich bemerke, wie ein junger unscheinbarer Mann beständig um mich herum schleicht, und mir wie ein Dackel hinterher zu tappen scheint. Kontinuierlich wirft er mir diese undeutbaren Blicke zu. Der will doch was – denk ich mir. Aber was?
Mir das Portemonnaie aus der Hose ziehen? Mich entführen? Mir ein Ständchen singen? Oder hab ich da was im Gesicht pappen? Tja, da hab ich keine Ahnung, jedenfalls noch nicht.

23.13 Uhr: Die gewöhnungsbedürftige Luxus-Zigarette ist aufgeraucht. Ich tappe hinüber zu dem taktisch positionierten Bahnhofs-Aschenbecher und versenke den Luxus-Stummel mit einem sinnlich-erotischen Schwung darin.
Nein, Blödsinn, eigentlich drücke ich die Kippe wie ein seniler Rentner auf der Metalloberfläche aus, und lasse den Stummel dann in den Krater rutschen.
Instinktiv prüfend schweift mein Blick hinüber zu dem dubiosen Kerl, der nun etwa vier Meter von mir entfernt steht und mich fragwürdig anglotzt. Er sieht halbwegs dämlich aus, irgendwie betrunken, oder bekifft, oder betrunken und bekifft.

Unter seiner lilienweißen Jacke baumelt noch der untere Teil eines pinkfarbenen Hemdes hervor – das macht mich latent nervös. Wer so angezogen ist – denk ich mir – kann nur ein Techno-Freak, ein Ossi, oder ein Schwuler sein.
Er mustert mich: von unten hoch, von oben runter – so wie es Offiziere mit ihren Kadetten tun. Jedes Weib wäre in dieser Situation panisch geworden, aber dazu besteht gar kein Anlass, ist nur eine Frage der Suggestion. Wirklich bedrohlich schaut der Kerl ja nicht aus, eher orientierungslos.

Dennoch wirkt sein Verhalten irgendwie aufdringlich: wie er so an mir zu kleben scheint, mich regelrecht verfolgt, und mich immerzu anstiert. Was verdammt will der von mir – frag ich mich.
Na egal, vielleicht ist ihm einfach langweilig. Möglicherweise hängt er ein bisschen fest – das soll durchaus vorkommen, wenn man sich diverse Substanzen zuführt. Eventuell bin ich auch nur fein anzusehen. Ja, so wird es sein. Ich gehe weiter.

Wenige Minuten später kommt er zu mir rüber geschlappt, und nuschelt mich an: Ob er mich denn auf einen Kaffee einladen dürfe.
Hoppla hopp – da bin ich perplex. Hätte ja mit allem Schwachsinn gerechnet, aber damit nun wirklich nicht. Ich grinse ihn an, bin einige endlose Sekunden lang leicht irritiert, und versuche mich dann mehr oder minder kultiviert aus der Affäre zu ziehen: Ist mir zu spät – sag ich. Kann man nix machen – sagt er, und verdrückt sich wieder.

Wow – denk ich mir unterschwellig stolz – mich hat noch nie jemand angebaggert, und erst recht kein Mann. In diesem absonderlichen Moment der implodierenden Euphorie fühle ich mich seit einer undefinierbaren Ewigkeit mal wieder so richtig attraktiv, beinahe so, als hätte ich einen Wert.
Saustark – denk ich mir, und muss lachen. Bescheuert – denk ich anschließend – die Schwuchtel will doch nur meinen Körper. Ich lache immernoch.

Über den wehrlosen Himmel hat sich mittlerweile ein geschwärzter Sternenschleier gelegt. Der Nachtwind ist klirrend kalt. Eigentlich mag ich Kälte, beziehungsweise: ich mag Kälte lieber als Hitze. Man muss sich nur ordentlich einmümmeln, damit sich genügend Wärme am Körper staut, dann kühlt man nicht mehr aus.
Hitze hingegen ist nicht abzuwehren, es sei denn, man bewegt sich nur noch in kühlendem Wasser fort – aber das tun wir Menschen ja nicht.

Heute jedoch bin ich gegen die Kälte nicht gefeit, es ist ungewöhnlich winterlich für einen Freitag im November. Eisige Luft drischt mir um die Hüfte, schlängelt sich hoch zum Torso, legt sich auf die Lungen, und schnürt mir den Hals zu.
Das wird mir zu bunt, also begebe ich mich in die Bahnhofslobby, hocke mich an einen Pfosten, und spanne aus. Der spiegelnde Boden wirkt sauber, fast steril – richtig gemütlich.
Mein Schädel dröhnt, so als wolle der Mussolini hundert Panzerbrigaden hindurch kommandieren – wie jedes Mal, wenn ich unterwegs gewesen bin.

23.22 Uhr: Nun ist es zwanzig nach elf und ein paar zerstampfte Augenblicke, gerade bin ich am Lesen, da kommt dieser nebulöse Kerl doch tatsächlich wieder anwatschelt. Der ist aber hartnäckig – denk ich mir. Schleicht wieder so um mich herum, als wolle er gar nix, als täte er nur bummeln. Dann bleibt er stehen und fängt abermals an zu nuscheln: Ob wir nicht noch was trinken gehen wollen.

Ich gucke ihn an, und antworte: Nein, heute nicht, fahre gleich nach Hause.
Den nächsten Zug könne ich wohl auch noch nehmen – meint er.
Nein – sag ich – der fährt erst nach Eins, und das ist mir zu spät.
Er scheint enttäuscht. Ich habe Mitleid.
Ob er nicht so recht wüsste wohin – frag ich.
Doch – sagt er – das schon, aber er wolle nicht allein.
Ja – sag ich – das kann ich verstehen, gefällt mir auch nicht, einsam und allein durch die Welt zu gurken, aber so spielt das Leben.

Tja, da stehen wir also an diesem sterilen Pfosten in der Hauptbahnhof-Lobby und beginnen zu schwadronieren, wie nur echte Männer schwadronieren. Mit Weibern funktioniert das nicht.
Amüsant – denk ich mir. Bin ja eigentlich gar nicht so schwul, wie ich vielleicht rüberkomme. Doch da lasse ich mir mal nix anmerken, hab ja noch etwas Zeit, also machen wir ein wenig Smalltalk.
Das ist im Grunde gar nicht meine Art – Smalltalk und so. Aber da will ich jetzt mal nicht so bockig sein, weiß ja wie das ist mit der Einsamkeit, da kann einem schon jedes noch so kleine Gespräch ganz gut tun.

Mittlerweile ist es halb zwölf. Der Hoschi hat mich nun bestimmt 10 Mal gefragt, ob ich noch was mit ihm trinken gehe. Er versteht das wohl nicht so recht, und ich lehne sein herzallerliebstes Angebot noch ein letztes Mal charmant ab: müde bin ich, Kopfweh hab ich, nach Hause will ich.
Ist ja nur die Wahrheit, da brauch ich mir gar nix vorzuwerfen, hab den Hoschi niemals belogen, nein, hab ihm nur nicht unmittelbar verklickert, dass er bei mir am falschen Ufer ist. Papperlapapp, das ist nicht gemein, nee, da ist der Kerl selbst Schuld, was nervt er auch so. Nein heißt nein – und nicht vielleicht.

23:36 Uhr: Jetzt muss ich aber hoch zum Gleis, sonst fährt der Zug noch ohne mich ab. Der Homophile will meine Nummer haben – doch seltsamerweise besitze ich just in diesem Moment keine funktionierende Nummer. Hach ja, manchmal bin ich ein echter Schelm.
Leider kann ich in solchen Situationen auch nicht so erbarmungslos abweisend sein, wie es für alle Beteiligten wahrscheinlich besser wäre. Also veranlasse ich, dass sich das Gemüt des Homophilen wenigstens für einige wenige Momente am Ausschank von Dopamin erfreuen kann, nenne ihm willkürlich einige Ziffern und sage ihm, er solle doch nächstes Wochenende mal da anrufen.

Ja ich weiß, das war böse. Und ich schäme mich ein wenig für mein Verhalten, denn im Nachhinein wird sich der Hoschi wohl etwas enttäuscht fühlen. Aber zumindest jetzt freut er sich, und ich freue mich mit ihm – jawoll, nur darauf kommt es an. Wir verabschieden uns per Händedruck. Er geht weiter streunen, ich gehe zur Bahn. Wunderbar.

Meine Güte, was für ein schrulliger Freitag im November. Die Welt lebt, und die Welt geht schlafen. Ein geistesgestörter Mischmasch wabert durch die feuchten Straßen der in sanfte Dunkelheit getauchten Innenstadt.
Diese Stadt – sie ist schön und hässlich in einem einzigen zeitlosen Augenschlag; an Ambivalenz so reich, wie der Kosmos reich an Sternen.

Und ich? – Nun, ich fühle mich gerade genauso wie diese ambivalente Innenstadt: außen winterlich kühl, innen mollig warm, dunkel und hell zugleich, glasklar und doch verzerrt, etwas selig und etwas dreckig.



 
 
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